Montag, 11. September 2023

Carlos Santana – Havana Moon (1983)

1983 erscheint „Havana Moon“, ein Soloalbum von Carlos Santana. Beim Titelsong, um den es hier geht, begleiten ihn neben Santana-Musikern auch Booker T. Jones und die Fabulous Thunderbirds (Jimmie Vaughan, Fran Christina, Kim Wilson, Keith Ferguson).


Wir hören eine Coverversion des Songs „Havana Moon“ von Chuck Berry (1956). Dessen Vorlage ist wiederum der „Calypso Blues“ von Nat King Cole (1951), bei dem jener nur von Congas begleitet singt. Hier ist die Idee für „Havana Moon“ greifbar – anders als bei einer modernen Reggae-Fassung des „Calypso Blues“ von Calypso Rose (2018).

Zum Rhythmus und der Melodie von Nat King Cole fügt Berry die traurige Geschichte eines Kubaners, der auf sein American Girl wartet. Sie haben sich in New York kennengelernt, eine Nacht durchgetanzt und sie möchte ihn offenbar in ihre Heimat holen. Doch ihr Schiff verspätet sich. Mitternacht ist vorbei, der Mond steht tief und der Wind weht kräftig. In seiner Einsamkeit öffnet der Wartende den mitgebrachten Rum und das Schicksal nimmt seinen Lauf. Während er seinen Rausch ausschläft, kommt das Schiff und fährt wieder – mitsamt dem enttäuschten American Girl. Die Träume des Kubaners von einem besseren Leben lösen sich dabei in Luft auf.

Ich finde es bemerkenswert, wie Chuck Berry diese Tragödie über eine verpasste Gelegenheit mit Perspektivwechseln vom Ich-Erzähler zum außenstehenden Erzähler und zurück in so wenige knappe Zeilen fasst. Gekonnt verwendet er das in der Karibik verbreitete Pidgin-English („Me grab me shoes, me jump and me run …“) und zeichnet die Geschichte mit den kräftigen Pinselstrichen seiner Verse. Und großartig ist einmal mehr, wie Santana das spartanische Original in einem fantastischen Arrangement mit viel Percussion erst richtig zum Leben erweckt und fließen lässt und dabei sogar den Text noch strafft.

Samstag, 26. August 2023

Santana in Ost-Berlin 1987

Am 5. und 6. April 1987 gab Santana zwei dreistündige Konzerte im Palast der Republik in Ost-Berlin. Der Auftritt am 6. April wurde live im DDR-Fernsehen übertragen. Aber das ist eine andere Geschichte.


Heute überraschte und begeisterte mich ein Freund mit einer alten Zeitschrift aus jener Epoche. Im DDR-Jugendmagazin „neues leben“ (Heft 7/87, Seiten 4–11) befindet sich ein längerer Artikel über die Band und ein zusammengefasstes Interview mit Carlos, das mir bislang unbekannt war. Danke, Thilo …


Auf Seite 9 ist eine Widmung von Carlos abgedruckt, für deren Entzifferung ich eine Weile brauchte und die sich als ungeahnt aktuell erweist: „To all in ‚new life neues-leben‘ may God bless you with Eternal Peace. True Gratitude Carlos Santana“.

Der Artikel enthält neben einigen kleineren Ungenauigkeiten (die mit der damaligen Datenlage zu entschuldigen sind) auch einen größeren Fehler. In den Steckbriefen der Musiker auf Seite 6 wird dem Keyboarder Chester Thompson nämlich bescheinigt, bei Frank Zappa, Genesis, Tony Banks, Steve Hackett und Weather Report gespielt zu haben. Das stimmt nicht. Die Redakteure übersahen, dass 1985 kurioserweise ein zweiter Chester Thompson als Schlagzeuger bei Santana mitwirkte. Dieser trommelte tatsächlich bei den genannten Acts und kehrte nach seinem kurzen Santana-Gastspiel zu Genesis zurück. Der Keyboard-Chester hingegen kam von Tower of Power und blieb dann 25 Jahre lang bei Santana (siehe „Sechs Jahrzehnte SANTANA“, S. 174).

Donnerstag, 17. August 2023

Kinostart von „Carlos“ am 29. September 2023

Am 29. September soll der Film „Carlos“ in den Kinos anlaufen. Weltweite Premierenaufführungen sind für den 23., 24. und 27. September angekündigt.

Quelle: https://www.carlosglobalpremiere.com
Weitere Infos und Updates gibt es hier. Auf dieser Seite kann man sich für Updates auch registrieren lassen.

Mittwoch, 26. Juli 2023

Jose „Chepito“ Areas – Jose „Chepito“ Areas (CD 2020)

Das 1974 veröffentlichte Soloalbum des großartigen Santana-Timbaleros José „Chepito“ Areas (bei Santana blieb er von 1969–1977) habe ich bereits 2011 vorgestellt (hier). Es gab seit jeher nur die Vinyl-Ausgabe.



Dies änderte sich am 23. September 2020 mit der in Japan hergestellten Blu-spec CD 2. So heißt das Format, welches mit einem blauen statt mit einem roten Laser gebrannt wird und daher eine höhere Auflösung hat. Die Scheibe sollte dennoch auf jedem herkömmlichen CD-Spieler laufen.




Sie steckt wie die LP in einer Papphülle und kommt optisch wie eine kleine Vinylplatte daher. Ausgestattet ist sie zudem mit einem 24-seitigen Booklet. Leider vermag ich die umfangreichen Liner Notes nicht zu lesen, da sie japanisch geschrieben sind. Bei der Musik hingegen gibt es keine Extras. Es sind einfach die neun Titel wie auf der LP. Daher muss ich meiner erwähnten Rezension auch nichts hinzufügen und kann die feine Musik genießen …

Mittwoch, 12. Juli 2023

Neal Schon & Gregg Rolie – Journey Through Time (2023)

Nach den Aufnahmen für „Caravanserai“ (1972) verließen Neal Schon (Gitarre) und Gregg Rolie (Hammondorgel und Gesang) Santana, um 1973 ihr neues Projekt Journey zu gründen. Neal Schon wirkt als einziges Mitglied ohne Unterbrechung noch heute bei Journey. Gregg Rolie stieg 1980 aus, weil er von Tourneen die Nase voll hatte, eine Familie gründen und Soloprojekte verfolgen wollte.


Über die Jahre trafen die beiden immer wieder für gemeinsame Projekte wie „Abraxas Pool“ (1997), „Santana IV“ (2016) oder bei Soloalben aufeinander. Und dann, am 9. Februar 2018, kam es zu einem Benefiz-Konzert im The Independent in San Francisco zugunsten der Opfer der verheerenden Brände in der North Bay im Oktober 2017. Weitere Mitwirkende waren Deen Castronovo von Journey (Schlagzeug und Lead Vocals), Marco Mendoza von Thin Lizzy und Whitesnake (Bass, Lead und Background Vocals) sowie John Varn (Keyboards und Background Vocals). Mit Deen Castronovo ist Neal Schon bereits 1993 bei Paul Rodgers & Company aufgetreten.

Ein Mitschnitt dieses Konzerts wurde am 26. Mai 2023 auf 3 CDs, DVD und Blu-ray veröffentlicht. Darauf befinden sich 29 Songs, nach anderer Zählung sogar 31, denn Track 15 ist ein Dreier-Medley. Es wird dargeboten als Solo von Neal Schon mit Gitarre und Background Vocals und Deen Castronovo nur mit Lead Vocals. Die anderen Musiker verlassen unterdessen die Bühne und das Ende ist durchaus berührend.


Die Spielzeit beträgt 2:41:52. „Journey Through Time“ als Titel ist Programm. Denn 29 von 31 Stücken stammen von Journey, und davon wiederum 24 aus der Zeit mit Gregg Rolie, also von den ersten sechs Alben bis „Departure“. Insofern ist dies quasi eine abendfüllende Journey-Show und dürfte für Fans dieser Band wohl unverzichtbar sein.

Die letzten beiden Titel „Black Magic Woman“ (8:45) und „Oye Como Va“ (4:31) vom Santana-Album „Abraxas“ bilden den krönenden Abschluss. „Black Magic Woman“ kommt in einer Version daher, die man nicht sofort erkennt. Anstelle des Rolie-Intros übernimmt Neal Schon den Einstieg in ein leicht jazziges Arrangement. „Gypsy Queen“ folgt und auch „3rd Stone from the Sun“ von Jimi Hendrix wird eingebaut. Das Ensemble gerät in Flow und liefert eine hörenswerte Interpretation mit spannenden Details ab. So imitieren kurze Beatboxing-Einlagen von Marco Mendoza die fehlende Percussion. Und wie von „Abraxas“ gewohnt schließt sich „Oye Como Va“ an. Klasse!

Insgesamt ist dies eine sehr schöne Aufnahme. Wenn ich etwas bemäkeln will, dann die unruhige und stockende Kameraführung. Das ist freilich eher ein optisches Problem. Die Musik ist wunderbar und von Journey wurden feine Stücke ausgewählt – von Santana sowieso.

Und hier eine Liste aller Songs mit dem jeweiligen Herkunftsalbum:
  1. I‘m Gonna Leave You („Look into the Future“, 1976)
  2. Look into the Future („Look into the Future“, 1976)
  3. Kohoutek („Journey“, 1975)
  4. Daydream („Evolution“, 1979)
  5. La Do Da („Infinity“, 1978)
  6. Line of Fire („Departure“, 1980)
  7. Walk‘s Like a Lady („Departure“, 1980)
  8. Feelin‘ That Way („Infinity“, 1978)
  9. Anytime („Look into the Future“, 1976)
  10. Lights („Infinity“, 1978)
  11. Still They Ride („Escape“, 1981)
  12. Separate Ways („Frontiers“, 1983)
  13. Lovin‘, Touchin‘, Squeezin‘ („Evolution“, 1979)
  14. Wheel in the Sky („Infinity“, 1978)
  15. Patiently („Infinity“, 1978) / Trial by Fire („Trial by Fire“, 1996) / Stay Awhile („Departure“, 1980)
  16. Mystery Mountain („Journey“, 1975)
  17. Of a Lifetime („Journey“, 1975)
  18. Just the Same Way („Evolution“, 1979)
  19. Lovin‘ You Is Easy („Evolution“, 1979)
  20. Lady Luck („Evolution“, 1979)
  21. You‘re on Your Own („Look into the Future“, 1976)
  22. Hustler („Next“, 1977)
  23. Nickel and Dime („Next“, 1977)
  24. People („Next“, 1977)
  25. Mother Father („Escape“, 1981)
  26. Any Way You Want It („Departure“, 1980)
  27. Don‘t Stop Believin‘ („Escape“, 1981)
  28. Black Magic Woman („Abraxas“, 1970)
  29. Oye Como Va („Abraxas“, 1970)
In einem langen Interview mit Narada Michael Walden (Musikproduzent, ehemaliger Schlagzeuger beim Mahavishnu Orchestra, ab 2020 vorübergehend auch bei Journey) erzählt Neal Schon von den harten Anfängen der Band (ab 34:40): „Der Start von Journey war viel Arbeit, Mann. Wir haben uns drei Jahre lang unter schwierigsten Bedingungen den Hintern aufgerissen. Wir reisten in unserem Kombi – fünf, sechs, sieben Leute in einem Wagen. Ein Typ – John Villanueva [Roadie – er hatte die Idee für den Bandnamen] war es wohl – saß hinten im Gepäckraum. Wir fuhren Stunden um Stunden und Aynsley Dunbar steuerte den Wagen (…). Wir fuhren den ganzen Tag, um gerade noch rechtzeitig zu unserem Gig zu kommen. Wir sprangen aus dem Auto, direkt auf die Bühne. Kein Soundcheck. Wir spielten, sprangen zurück ins Auto und brausten zur nächsten Stadt, wo wir am nächsten Tag auftreten mussten. Meist fuhren wir, bis der Morgen dämmerte, und irrten dann auf der Suche nach einem Hotel umher … so ungefähr lief es drei Jahre lang.

Als wir schließlich Lynnyrd Skynnyrd trafen und [Manager] Herbie Herbert uns als Vorgruppe unterbrachte, fanden wir ein Publikum, das uns akzeptierte und den Durchbruch bescherte. Ich dachte: Endlich versteht uns jemand! Bis dahin spielten wir für jeden von Cheech & Chong bis Kiss. Und mit Mahavishnu. Mann, wir haben für euch gespielt! [Narada: „Ja, es war fantastisch, in San Diego.“] Die Leute standen nicht immer hinter uns. Wir waren damals ziemlich anders. Wir waren nicht Song-orientiert, sondern jammten lieber. Aber plötzlich, bei Lynnyrd Skynnyrd, stimmte die Chemie mit dem Publikum. Deren Fans mochten die Gitarre und das Schlagzeug und die Energie der ausgedehnten Jams, weil sie die langen Passagen mit doppelten Gitarren und ihren doppelten Gitarrensoli kannten – das waren schließlich wichtige Bestandteile von deren Energie. Wir begannen also bei ihnen zu spielen und durften noch vor ihrem Auftritt drei richtig starke und begeistert aufgenommene Zugaben abliefern – bei fast jedem Konzert. Ich dachte: Ja, das ist es!“

Montag, 19. Juni 2023

Carlos – Der Film über Carlos Santana (2023)

Ende Mai 2022, wenige Tage vor dem Erscheinen meines Buches „Sechs Jahrzehnte SANTANA“, kam die Nachricht, dass eine Dokumentation über das Leben und die Musik von Carlos Santana produziert wird. Im letzten Kapitel konnte ich die Meldung gerade noch unterbringen.

Foto: Sony Pictures
Inzwischen ist der Film fertig und feierte am 17. Juni 2023 auf dem Tribeca Festival in New York seine Premiere. Die Dokumentation mit dem Titel „Carlos“ hat eine Spielzeit von 87 Minuten. Regisseur ist Rudy Valdez. Sony Pictures Classics hat die Rechte an dem Film erworben. Er soll am 29. September in U.S.-Kinos anlaufen (mehr hier).

Der in Michigan geborene und aufgewachsene Filmemacher und Emmy-Award-Preisträger Rudy Valdez ist dankbar für die Gelegenheit, Carlos Santanas Geschichte zu erzählen. „Carlos ist ein echter Wegbereiter, der vielen Menschen sehr viel bedeutet. Ich hoffe, dass dieser Film ein Leben voller Menschlichkeit würdigt. Für mich war es unglaublich wichtig, jemanden zum Vorbild zu haben, der die Grenzen und Erwartungen der Welt an ihn als mexikanischer Einwanderer und als farbige Person gesprengt hat. Und ich freue mich sehr, dass ich der Welt diese Geschichte präsentieren kann.“

Auf die Frage, wie es ist, einen Film über sein eigenes Leben zu sehen, antwortet Carlos: „Es ist seltsam. Es ist interessant, diese Person zu beobachten, die unaufhörlich danach strebt und daran glaubt, dass sie mit diesen unglaublichen Musikern auf eine Bühne gehört. Wer hätte gedacht, dass ich in einem Moment im Tic Tock (Drive-In) Teller wasche und im nächsten mit Jerry Garcia und Eric Clapton auf der Bühne stehe und dass sie auf mich schauen als hätte ich etwas, von dem sie lernen wollen? Sie alle fragten: ‚Wo hast du das her?‘ Und ich sagte: ‚Ich habe einem ungarischen Zigeunermusiker namens Gábor Szabó gelauscht‘. Und Schlagzeugern. Ich habe viel von afrikanischen Schlagzeugern gelernt. So erfuhr ich, wie man die Eier anders rühren kann. Die Jungs von Creedence Clearwater fragten: ‚Wie nennst du die Musik, die du spielst?‘ Und ich sagte: ‚Afrikanische Rhythmen mit Bluesgitarre‘“.

Samstag, 10. Juni 2023

Bob Dylan – Die Philosophie des modernen Songs (2022)

Bob Dylan ist der erste Musiker, der den Nobelpreis für Literatur erhielt. Und zwar „für seine poetischen Neuschöpfungen in der großen amerikanischen Songtradition“. Das war 2016. Doch er kann auch Bücher schreiben. Am 2. November 2022 erschien „Die Philosophie des modernen Songs“. Die deutsche Ausgabe (Verlag C.H. Beck) hat 352 Seiten und kostet 35 Euro. In 66 Kapiteln stellt Bob Dylan 66 Musikstücke vor, wobei das älteste („Keep My Skillet Good and Greasy“ von Uncle Dave Macon) aus dem Jahr 1924 und das neueste („Nelly Was a Lady“ von Alvin Youngblood Hart) aus dem Jahr 2004 stammt. Es ist eine eigenwillige Auswahl des verdienten und prägenden Singer-Songwriters, die man vielleicht genau deshalb einfach respektieren sollte, ohne über den Begriff „modern“ zu diskutieren, die Titelauswahl zu kritisieren oder das Fehlen eigener Lieblingssongs zu beklagen.


Ich widme mich Dylans Buch, weil „Black Magic Woman“ – geschrieben von Peter Green, besprochen aber ausdrücklich in der Version von Santana – einer dieser 66 Songs ist. Bevor ich darauf eingehe, sei erwähnt, dass „Die Philosophie des modernen Songs“ neben den Gedanken des Autors sehr viele historische Fotos und Bilder enthält. Sie zeigen Plattenläden, die Herstellung von Vinylscheiben, Musiker, Menschen, uralte Werbung in Zeitungen und Magazinen, skurrile Szenen und vieles rund ums Musik-Business. Eine vielseitige Mischung. Ein Bilderbuch voller Geschichten … oder umgekehrt. Dabei nähert sich Dylan den Songs auf recht unterschiedliche Weise. Mal steigt er direkt bei dem Titel ein, mal spannt er uns mit Geschichten und Assoziationen – mitunter etwas spröde – auf die Folter, bis er irgendwann zum Thema kommt. Manche Kapitel sind vorbei, bevor sie richtig begonnen haben. Andere bieten reichlich Lesestoff. Immer wieder öffnet Bob Dylan den Blick für Facetten, die man bislang übersehen hat.

Gespannt schlage ich also Kapitel 56 über „Black Magic Woman“ von Santana (S. 281–288) auf. Was schreibt Bob Dylan wohl darüber? Überraschenderweise nicht besonders viel. Stattdessen erzählt er von der US-amerikanischen Schriftstellerin und Drehbuchautorin Leigh Brackett (1915–1978). Sie hat viel Fantasy- und Science-Fiction-Literatur verfasst, darunter das Drehbuch zu „Star Wars: Das Imperium schlägt zurück“ mit George Lucas. Offene Rätsel bringen einen gewissen Zauber in ihre Geschichten.

Damit leitet Dylan allmählich zum Thema Magie über. Magie kann auch darin bestehen, zu tun, was eigentlich allen Regeln und Normen widerspricht, was wenig Sinn ergibt, in der speziellen Kombination aber wunderbar funktioniert. Gerade bei Musik hilft Bildung nicht unbedingt weiter: „Nimm zwei Menschen – der eine studiert kontrapunktische Musiktheorie, der andere weint, wenn er ein trauriges Lied hört. Welcher von beiden versteht die Musik besser?“ (S. 286).

Scheinbar dürftige Texte und simple Sätze können im Zusammenklang mit der richtigen Musik ihren Zauber entfalten. Genau hier verbirgt sich laut Dylan das Geheimnis von Santanas „Black Magic Woman“: „Ist es ein Blues? Musikexperten werden andere Einflüsse anführen, andere Künstler und Zitate aus anderen Songs ins Spiel bringen. Wer in musikalischen Strukturen besonders bewandert ist, wird vielleicht auf Tempowechsel und technischen Firlefanz wie Hammering, transponierte Harmonien und den Übergang zwischen ungarischen und lateinischen Polyrhythmen verweisen. Über das Herz des Songs wird damit aber nichts gesagt.

Oberflächlich betrachtet mag der Text nicht beeindrucken. In zwei der drei sechszeiligen Strophen wird eine der Zeilen gleich viermal wiederholt. In der dritten nur dreimal. Doch im Verbund mit der Musik wirkt er hypnotisch, ekstatisch, gleichermaßen mysteriös und so direkt wie ein Telegramm. Er besitzt die Tiefe eines großartigen Gemäldes, verändert sich je nachdem, wie man sich ihm nähert, und scheint von innen heraus zu leuchten, er fordert zu wiederholter Betrachtung auf.“ Dylans Fazit: „Man kann weiterhin aus der Musik eine Wissenschaft machen wollen, aber in der Wissenschaft wird eins und eins immer zwei ergeben. Musik dagegen erklärt uns, wie alle Kunst, auch die Kunst der Liebe, dass eins plus eins unter optimalen Bedingungen drei ist“ (S. 287).

Mittwoch, 24. Mai 2023

Ultimate Santana (2007) – Zum Gedenken an Tina Turner

Am 16. Oktober 2007 erscheint die Compilation „Ultimate Santana“. Neben sieben alten und sieben jungen Hits enthält das Album vier neue Titel.


„The Game of Love“ ist in zwei Versionen vertreten. Einmal in der bekannten Fassung mit Michelle Branch vom Album „Shaman“ (2002), für die es einen Grammy gab (Best Pop Collaboration with Vocals 2002: Carlos Santana & Michelle Branch). Und dann als Bonus Track mit Tina Turner anstelle von Michelle Branch. Welch ein Unterschied – Tina Turner kann singen! Es ist wie Sandpapier statt Seide – eine großartige Variante.

Tina Turner konnte singen. Sie starb heute, am 24. Mai 2023, im Alter von 83 Jahren nach langer Krankheit in ihrem Haus in der Schweiz.

Wie sehr Carlos die Sängerin schätzt, deutet er drei Wochen später in einem Interview an: „Gegenwärtig höre ich nur drei Sachen: Nina Simone, Etta James und Tina Turner. Ich möchte den Klang dieser Frauen in meine Gitarre kriegen. Meine Gitarre soll wie eine Frau klingen.“

Mittwoch, 17. Mai 2023

Chico Hamilton – El Chico (1966)

In meinem Buch „Sechs Jahrzehnte SANTANA“ behandle ich die Vorgeschichte Santanas und wichtige Einflüsse für die Entwicklung der Musiker ziemlich detailliert. Auf Seite 26 findet sich beispielsweise diese Passage:

Über einen gemeinsamen Freund lernt Carlos ein Album kennen, das ihn erst umhaut und dann maßgeblich prägt. „Es war ‚El Chico‘ von Chico Hamilton – das Album mit den lateinamerikanischen Perkussionisten Willie Bobo und Victor Pantoja und einem Gitarristen namens Gábor Szabó. Mir gefiel das Album auf Anhieb. Chico trug einen Torero-Umhang, und einige Songs, etwa ‚Conquistadores‘ und ‚El Moors‘, hatten spanische Titel. Ich wusste, dass Chico ein Jazz-Drummer war, aber es klang anders als jeder Jazz, den ich je zuvor gehört hatte. Die Musik klang sehr lateinamerikanisch und war obendrein mit Soul und großartigen Grooves vermischt.


Aber es war Gábors Gitarre, die mich begeisterte. Ich hörte sie und spürte, wie die Moleküle in meinem Gehirn sich ausdehnten. Sein Sound hatte eine spirituelle Dimension und öffnete mir das Tor zu anderen Welten. Man merkte, dass er eine Menge indische Musik hörte, denn sein Sound enthielt auch Bordune. Es war Trance-Musik. Er konnte die einfachste Melodie spielen und dennoch in die Tiefe gehen. Gábor war der erste Gitarrist, der mich auf die Idee brachte, über ein Thema hinauszugehen und eine Geschichte zu erzählen, die nicht nur den Titel eines Songs oder die Licks anderer wiederkäute. Gábor sorgte dafür, dass ich B. B. King, John Lee Hooker und Jimmy Reed untreu wurde. (…) ‚El Chico‘ war eine Straßenkarte, die mir zeigte, wohin ich als Nächstes gehen musste. Ich zog sofort los und holte mir Willie Bobos Album ‚Spanish Grease‘. Im folgenden Jahr kaufte ich Gábor Szabós ‚Spellbinder‘ – darauf war ‚Gypsy Queen‘ – und Bobos ‚Uno-Dos-Tres‘ mit ‚Fried Neckbones and Some Home Fries‘. Beide Songs trugen dazu bei, den Santana-Sound zu erschaffen“ (Carlos Santana: Der Klang der Welt, S. 136 f).


Auch das mitreißende „Conquistadores“ von Chico Hamilton gehört in diese Kategorie. Santana spielt eine großartige Version unter dem Titel „Conquistador Rides Again“ (8:40) auf „Live at the Fillmore 1968“.

Sonntag, 7. Mai 2023

Herbie Mann – The Complete Recordings: Part Three 1959–1962 (4 CDs 2016)

Carlos Santana erzählt in seiner Biografie von der ersten Begegnung mit Gregg Rolie im Jahr 1966 bei einer Jam-Session: „Im Bauernhaus begann ich mit der E-Gitarre. Der Orgelspieler kam zu mir rüber und wir unterhielten uns. Er hieß Gregg Rolie. (…) Ich hatte einen Joint dabei und er trank ein Bier. Wir begannen zu reden und es machte klick, noch ehe wir zu spielen anfingen. Wie sich herausstellte, war auch er ein großer Fan der Hammondorgel und wir hörten beide die gleiche schwarze Musik.

Wir jammten mit ‚Comin‘ Home Baby‘, einem Song, mit dem Herbie Mann einen Hit gelandet hatte, den ich vom Radio kannte. Es war ein Groove, nicht kompliziert, der etwa zur selben Zeit herauskam, als ‚Sidewinder‘ und andere Jazzstücke allmählich das Mainstream-Radio unterwanderten. Heute nennen wir das Crossover. Gregg hörte diese Musik ebenfalls und er konnte sich für einen Groove begeistern“ (S. 157 f).


Also suchte ich das Livealbum „Herbie Mann at the Village Gate“ (1961), weil es den Song „Comin‘ Home Baby“ enthält. Dieses Stück hatte ich bislang nur in einer kurzen Version von Quincy Jones (1970). Tatsächlich entdeckte ich die gesuchte CD. Aber ich stieß auch auf eine Box, die acht LPs des unglaublich produktiven Flötisten Herbie Mann – darunter die gewünschte – auf vier CDs enthält und günstiger war als die einzelne CD. Selbstverständlich fackelte ich nicht lange und bestellte die Box. Hier ihr Inhalt:
  1. Flautista! (1959)
  2. The Common Ground (1960)
  3. Flute, Brass, Vibes and Percussion (1960)
  4. The Family of Mann (1961)
  5. Herbie Mann at the Village Gate (1961)
  6. Brazil, Bossa Nova & Blues (1962)
  7. Right Now (1962)
  8. St. Thomas (1962)
Jeweils zwei LPs befinden sich auf einer CD. Insgesamt ergibt das 298 Minuten – also knapp fünf Stunden – kurzweiliger Musik. Und nicht nur das …


Meine Begeisterung war groß, als ich begann, die Box durchzuhören. Denn einerseits ist das erwähnte „Comin‘ Home Baby“ ein toller Song und mit 8:39 Minuten zudem schön lang. Mindestens genauso erfreuen mich jedoch die Musiker, von denen viele von Santana oder aus dem Latinjazz-Umfeld bekannt sind, nämlich zum Beispiel …

  • Carlos „Patato” Valdez (Congas/Tambora auf 1, 6, 7, 8)
  • José Luis Mangual (Bongos/Tambora auf 1, 8)
  • Johnny Rae (Marimba/Vibraphone/Percussion auf 1, 2, 3, 8)
  • Ray Barretto (Bongos/Percussion auf 2, 3, 4)
  • Michael „Babatunde“ Olatunji (Percussion auf 2)
  • Willie Bobo (Drums auf 6, 7)
  • Johnny Pacheco (Percussion auf 7)
  • Victor Pantoja (Tambora auf 8)

Das sind natürlich nur einige der beteiligten Musiker, aber klangvolle Namen in der Szene. Die Musik groovt entspannt jazzig, afrokubanisch, brasilianisch und trotz ihres Alters in transparentem Stereo-Sound. Alles in allem ist dies eine gelungene Zusammenstellung mit etlichen Standards und ganz viel Percussion.