Seit den Siebzigerjahren, als ich die Musik für mich
entdeckte, liebe ich LPs nicht nur wegen der Klänge, die eine feine Nadel dem
meist schwarzen Vinyl entlockt, sondern zugleich wegen der vielfältig
gestalteten Cover. Und bisweilen setzt sich die Kreativität im Inneren fort. Klappcover
und die Schutzhüllen (Sleeves) der LPs bieten viel Platz dafür. Mitunter erfreuen den Sammler weitere Extras wie der echte Reißverschluss zum Auf- und Zuziehen auf dem
Cover des Rolling-Stones-Albums „Sticky Fingers“ (1971), der Umschlag mit
Fotos und einem Konzertplakat bei „The Who Live At Leeds“ (1970) oder das
ausklappbare Schutzschild bei „Warrior On The Edge Of Time“ von Hawkwind (1975).
Bemerkenswert ist auch das Dreifachalbum „Lotus“ von Santana (1974), welches
den Fans als opulentes Gesamtkunstwerk mit zwei vierteiligen Postern reichlich
zu blättern, zu gucken und zu staunen gibt. Es wurde entworfen von Tadanori
Yokoo, der am Design von vier Santana-Alben beteiligt war.
Schallplattencover sind ein faszinierender Zweig
der Gebrauchskunst. Sie müssen zur Musik und zur Identität der Musiker
passen und obendrein vielleicht deren Logo oder andere Erkennungsmerkmale tragen
wie die leckende Zunge („Tongue and Lips“) der Rolling Stones, den
geschwungenen Schriftzug von Chicago, den Skarabäus von Journey oder die vier
senkrechten Balken von Electric Flag.
© Taschen-Verlag |
Kein Wunder also, dass ein Buch mit dem Titel „Art Record
Covers“ von Francesco Spampinato und Julius Wiedemann aus dem Taschen-Verlag sofort mein Interesse weckt.
Sein Name lässt erwarten, dass es Cover präsentiert, bei denen die Betonung
eher auf Kunst als auf Gebrauch liegt. Sein Steckbrief: Hardcover mit stabilem
Schutzumschlag – 30 x 30 cm groß – 4,5 cm dick – 449 Seiten stark – über 3,8 kg
schwer – viel hochwertig anmutendes Material also für 49,99 Euro.
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Ich schau hinein und stelle fest: Kunst muss nicht schön
sein. Mehr noch… Kunst darf oftmals nicht schön sein. Sie verpackt ja
nicht immer nur Entspannungsmusik und eingängige Sounds, sondern häufig Punk, Rap,
Metal, Independent Music und ähnliches – zornige, laute, anklagende, kritische,
grenzwertige oder experimentelle Klänge. Analog dazu sollen die Cover
aufrütteln, verstören, erschrecken, abstoßen, verwundern, nachdenklich oder
neugierig machen. All das findet man hier. Hübsche Cover bietet „Art Record Covers“ ebenfalls, doch die sind klar in der Minderheit. Stattdessen: Kunst an
den Grenzen der Kunst für Musik an den Grenzen der Musik.
Neben mehr als 500 Plattencover enthält das Buch auf den ersten 69 Seiten auch einigen Text – jedes Kapitel nacheinander in
Englisch, Deutsch und Französisch abgedruckt und mit Beispielen illustriert. Eine Einleitung skizziert die Geschichte von
anfänglich schlichten Kartonhüllen zu den heutigen Kunstwerken. Ihr folgen
Interviews mit Tauba Auerbach, Shepard Fairey, Kim Gordon, Christian Marclay,
Albert Oehlen und Raymond Pettibon – allesamt Künstler, die zahlreiche Cover
entworfen haben und teilweise auch selbst Musiker sind. Das Blättern im bunten Buch
ist schon reizvoll. Doch erst die Interviews wecken Verständnis für die Kunst
und die teils schrägen Motive. Indem die Künstler über ihre Zusammenarbeit mit
Musikern und die Entstehung von Covern berichten und uns an ihrer persönlichen
Entwicklung teilhaben lassen, fügen sie ihren Grafiken eine weitere Dimension
hinzu und füllen sie erst mit Leben.
Wir finden hier die persönliche Auswahl von Francesco Spampinato,
Kunsthistoriker und zur Zeit an der Universität Sorbonne Nouvelle in Paris
tätig, und Julius Wiedemann, Grafikdesigner und Kunstredakteur. „Die Intention
dieses Buches ist (…), das Plattencover als vollkommenes Medium für einen
erweiterten Kunstbegriff zu präsentieren“, schreibt Spampinato. Aber nicht nur
Randbereiche sind vertreten, sondern auch prominente Künstler wie Joseph Beuys,
Salvador Dali, Roy Lichtenstein, Henri Matisse, Joan Miró, Pablo Picasso,
Gerhard Richter, Victor Vasarely, Andy Warhol und Ai Weiwei. Von Andy Warhol
stammen neben etlichen anderen das John-Lennon-Album vorne auf dem Buch sowie
die bekannten und ebenfalls formatfüllend abgebildeten Cover von Velvet
Unterground and Nico mit der Banane und das bereits erwähnte „Sticky Fingers“ der
Rolling Stones. Daher sagt Spampinato auch zutreffend: „Jeder kann sich seine
Kunstsammlung aufbauen, denn viele der Platten sind günstig auf dem Flohmarkt,
in Plattenläden oder online erhältlich.“
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Ich kann „Art Record Covers“ jedem Musikfreund empfehlen, für den Musik
mehr ist als nur MP3-Downloads – jedem, der sich auch für die Albumkunst
interessiert und mehr über ihre Hintergründe erfahren möchte. Darüber hinaus
dürfte dieses Werk zeitgenössischen Künstlern durch seine Vielfalt und Bandbreite der
künstlerischen Ideen mancherlei Anregungen bieten.
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