„Lotus“, das legendäre Livealbum von Santana aus dem Jahr
1974, aufgenommen am 3. und 4. Juli 1973 in Osaka, ist aufgrund seiner spektakulären
Gestaltung durch
Tadanori Yokoo seit jeher ein Juwel für Fans und Sammler. Am 6. Januar 2017 kommt für
Sound-Feinschmecker eine
Hybrid-SACD des Albums auf den Markt – im
Quadrophonic-Mix als limitierte und nummerierte Doppel-CD mit schlichter
Ausstattung. Das geht auch besser. Am 28. April 2017 erscheint „Lotus“ als
Complete Edition in Japan als Dreifach-Hybrid-SACD in einer ähnlich üppigen Aufmachung wie
die
Legacy Edition (2006). Dazu gehören die verkleinerten Faltposter des ursprünglichen
LP-Sets, ein verkleinertes Tour-Book (in dem Sänger Leon Thomas noch nicht
vorgesehen ist – er muss recht kurzfristig zur Band gestoßen sein), der Reprint
einer Eintrittskarte vom 4. Juli 1973 sowie ein 64-seitiges Booklet mit vielen
Fotos und (leider) japanischen Texten, unter anderem von Tomoo Suzuki und
Tadanori Yokoo. Mit 18 x 18 cm fällt dieses Ensemble ungewöhnlich großformatig
aus. Vor allem enthält es sieben bislang unveröffentlichte Songs – das sind insgesamt
rund 35 Minuten mehr: „Japan“, „Bambele“ und „Um Um Um“ auf CD 1,
„Light Of Life“ auf CD 2 sowie „Savor“ (diesmal aber wirklich), „The Creator
Has A Master Plan“ und „Conga Solo“ auf CD 3.

Der legendäre und mit zwei Grammys geehrte Toningenieur
Tomoo (auch Tamoo, Tom oder Tomas) Suzuki, 1973 bereits für die Aufnahme und
Abmischung des Original-Albums verantwortlich, mischt 44 Jahre später unter
Verwendung der Mastertapes auch diese sieben bislang unveröffentlichten Tracks
ab.
Tomoo Suzuki erzählt über die Entstehung von „Lotus“, das ursprünglich nur in
Japan erscheinen sollte: „Anfang der Siebziger gab es kaum ‚echte’
Aufnahmestudios in Japan, um es mal ganz unverblümt auszudrücken. Die meisten
Plattenfirmen oder Labels brachten einfach ihre eigenen Aufnahmegeräte mit in
die Konzerthallen. Bei CBS/Sony nutzten wir damals ein spezialangefertigtes
8-Spur-Tonbandgerät für Musikaufnahmen. Es war aber so, dass Santana
ausdrücklich um ein 16-Spur-Gerät gebeten hatte und zu der Zeit gab es nur ein
einziges importiertes 16-Spur-Tonbandgerät im ganzen Land. Ich fragte den
Firmenpräsidenten Mr. Oga persönlich, ob ich diesen 16-Spur-Recorder verwenden
und eine Funktionsprüfung durchführen dürfe. Irgendwie konnte ich ihn
überzeugen und der Recorder wurde nach Osaka gebracht, damit wir den Auftritt
von Santana aufnehmen konnten. Seinerzeit war es keineswegs so leicht wie
heute, die schweren und kostbaren Aufnahmegeräte zu transportieren. Ich stellte
gar ein Team zusammen, dessen einziger Job darin bestand, die
16-Spur-Aufnahmebänder so schnell und präzise zu wechseln wie ein Formel-1-Team
Reifen wechselt“.
Für die Aufnahmen zum Album „
Welcome“ sowie die Japan-Tour
reiht sich Sänger und Stimmakrobat Leon Thomas bei Santana ein. Zu den
zahlreichen Stationen in seiner Karriere zählen Art Blakey und Count Basie
sowie später Freddie Hubbard und Joe Henderson. Leser des Magazins Down Beat
wählen ihn Anfang der Siebziger mehrfach zum besten Jazzsänger. Es spricht für
Santana, dass die Band immer wieder solche hochkarätigen Musiker verpflichten
kann. Die warme, volle Stimme kam bislang jedoch kaum zur Geltung, da sich auf „Lotus“
recht wenige Stücke mit Gesang befanden. Mit den sieben neuen Songs ändert sich
dies gründlich.
„Japan“ ist ein von Santana mit Elementen japanischer Musik
gelungen angereicherter Song von R. Hayashi und T. Matsushima, dessen Lyrics
allerdings ziemlich pathetisch und patriotisch ausfallen. Dem Publikum freilich
gefällt er.
„Bambele“, besteht aus Chants, Percussion und einigen
Keyboardeinlagen. Es wurde erstmalig auf „Viva Santana!“ veröffentlicht. Jene
deutlich kürzere Version stammt ebenfalls aus 1973.
„Um Um Um“ ist ein Sammelsurium von Scatgesang und vokalen
Experimenten. In einem Interview (1970) erläutert
Leon Thomas: „Ich verlor alle
meine Vorurteile über die Begrenzungen der menschlichen Stimme, ich lernte,
mich in alle Richtungen zu bewegen und begann, alle Möglichkeiten zu hören. Am
Beginn von aller Musik stand die menschliche Stimme – lange bevor es noch
irgendein Instrument gab. Für das, was ich tue, gibt es eigentlich keine
Bezeichnung. Ich nenne es ‚ego-less music’, denn es kommt aus den Tiefen meines
Unterbewusstseins. Ein Stöhnen, ein Seufzen, ein schriller Schrei – das kann alles
ausdrücken, was Menschen imstande sind, zu empfinden. Was aus meinem
Unterbewusstsein kommt, darf mein Bewusstsein auf keinen Fall einengen oder
begrenzen – nur kontrollieren! Ich habe auf archaische Dinge zurückgegriffen:
Musik aus dem Himalaya, indische Ragas, Gesänge der Pygmäen in Zentralafrika –
‚Umbo Veti’ etwa ist ein uraltes Jagdlied. Die Pygmäen singen es, bevor sie auf
Elefantenjagd gehen. Viele Weiße sagen, diese Musik sei primitiv. Aber das ist
nicht wahr, sie ist sehr komplex und subtil – und zugleich gibt sie der
menschlichen Stimme ungeahnte Freiheiten des Ausdrucks. Es ist die Aufgabe des
Künstlers, dem Zuhörer eine neue Perspektive von dem zu vermitteln, was um ihn
her geschieht, es zu kommentieren – und damit zu ordnen. Die Leute hören einem Sänger
zu, wenn er es versteht, sie in ihrem Unterbewusstsein zu treffen. Das kann er
aber nur, wenn er sein eigenes Unterbewusstsein weit öffnet“.
„Light Of Life“ ist eines der vier auf „Lotus“ enthaltenen Stücke,
die auch auf „Welcome“ erscheinen werden, jedoch erst nach der Tournee im
Herbst (2003 kommt als Bonus Track noch „Mantra“ hinzu).
Den spirituellen Song „The Creator Has A Master Plan“
begleitet Leon Thomas, der ihn gemeinsam mit Pharoah Sanders geschrieben hat,
bereits auf dessen Album „
Karma“ (1968) in einer sehr intensiven und mehr als
halbstündigen Version. Stimmungsvoll und ergreifend ist zudem sein späteres
Duett mit
Louis Armstrong.
Santana und John McLaughlin interpretieren den Titel
2011 in Montreux. Und wenn Leon Thomas auf der Japan-Tour schon
bei Santana mitwirkt, darf dieses Stück natürlich auch hier nicht fehlen.
Unverständlich und bedauerlich finde ich allerdings, dass es uns bislang
vorenthalten blieb. Melodisch, zart und berührend unterstützen Keyboards,
Schlagzeug, Percussion, Bass und der Hintergrundgesang der anderen Musiker Leon
Thomas. Für mich bildet dieses wunderbare „The Creator Has A Master Plan“ den
emotionalen Höhepunkt des Albums.
Endlich klärt sich gar das Wirrwarr um „Mr. Udo“ und „Savor“.
Der bislang unter beiden Namen veröffentlichte Song heißt hier „Mr. Udo“. Dies
ergibt auch einen Sinn, denn das neu enthaltene „Savor“ entspricht unverkennbar
dem gleichnamigen Song vom
Debütalbum. Offenbar wurde „Mr. Udo“ auf der
ursprünglichen LP sowie der Legacy Edition von „Lotus“ lediglich falsch
benannt. Und wer nicht genau aufpasst, bemerkt kaum das ebenfalls neue „Conga
Solo“ und stellt erst bei „Toussaint L'Overture“ fest, dass er sich wieder auf
bekanntem Terrain befindet.
Fazit: ich möchte diese
Schmuckausgabe von „Lotus“ nicht
missen. Leider muss man dafür wirklich tief in die Tasche
greifen. Vielleicht erscheinen die Titel ja gelegentlich auch als Bonus
Tracks auf der
einfachen CD-Ausgabe…